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„Wir wollen Menschen, die ihre Stärken zeigen“

ARDalpha spricht zum Thema „Lust auf Schule – Wie Lernen Freude macht“ mit BLLV-Präsidentin Fleischmann und Jugendpsychiater Schulte-Körne. Konsens: Erkenntnisse aus der Bildungsforschung zu Lernen und Leistung müssen schneller im Schulsystem ankommen.

“Welchen Effekt hätte es, wenn Lehrerinnen und Lehrer von Fehlerfahndern zu Schatzsuchern würden?“, fragt Moderatorin Özlem Sarikaya zu Beginn des ARDalpha Gesprächs über eine Idee von Schule, die Motivation und Lernfreude in den Mittelpunkt stellt. Für Lehrerinnen und Lehrer ist genau das das wichtigste Ziel, betont BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann: „Wir wollen Wissen mit den Kindern trainieren, die Kinder schlauer machen für die Welt von morgen. Und wir wollen sie als ganzheitliche Persönlichkeit mitnehmen. Wie lieben Kinder und wollen sie auf die Gesellschaft von morgen vorbereiten. Das ist unser Ethos, das steckt hinter allem, was wir tun.“

Welche enorme Ressource Lernfreude für Lernerfolge ist, lässt sich Fleischmann zufolge wunderbar am ersten Schultag erleben: „Ich war ja lange Schulleiterin und die schönste Szene ist: Erster Schultag und du schulst Erstklässler ein. Und dann sind die alle in der Aula und du stehst da und hast das Gefühl, die fressen dir die Haare vom Kopf. Also, die wollen jetzt ALLES lernen. Und dann weinen manche – aber nicht wegen Angst am ersten Schultag, sondern weil sie sagen ‘Wir haben noch gar nicht richtig lesen gelernt und heute war noch nicht rechnen, Hausaufgaben habe ich auch noch nicht‘. Wir spüren also, dass Erstklässler alles lernen wollen: Da ist meine Lehrerin und alles ist spannend. Da ist dieses Gefühl von ‘Ich muss ganz viel lernen im Leben und hier in dieser Schule‘.“

Angst lernt nicht gut

Hätte diese Einstellung zum Lernen die gesamte Bildungsbiographie Bestand, wäre das für alle Menschen enorm bereichernd. Doch die Realität sieht anders aus und das hat eindeutige Gründe, wie BLLV-Präsidentin Fleischmann schildert: „Wir beobachten schon in der zweiten Klasse, dass Kinder sagen ‘Mein Bruder hat mir das erzählt, es kommt eigentlich nur auf diese drei Noten in der vierten Klasse an!‘ Damit verlieren wir etwas, das wir nicht verlieren wollen. Wir wollen Kinder, die uns weiter die Haare vom Kopf fressen, die weiter alles lernen wollen, die aufgeschlossen sind für die Welt da draußen. Das System macht da vieles kaputt. Wir würden uns als BLLV wünschen, dass man nicht neun- und zehn-jährige Kinder mit drei Noten auseinanderdividieren muss.“

Denn der Notendruck insbesondere im Rahmen des bayerischen Übertrittsverfahrens hat enorme Folgen für Kinder, die auch Prof. Dr. Gerd Schulte-Körne, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der LMU München, mit Sorge beobachtet: „Der Druck auf die Schüler und Schülerinnen hat deutlich zugenommen. Die Anforderungen beginnen schon relativ früh in der Grundschule. Eltern kommen zu mir und sagen: ‘Jetzt werden schon die Weichen für die Zukunft gestellt. Wir müssen sehen, dass unser Kind besonders gut durch die Schule kommt. Denn wenn es das jetzt nicht schafft, dann droht später Arbeitslosigkeit und keine Karriere.‘ Da sind also viele Ängste, auch bei den Eltern. Das wirkt sich aus, wenn Kinder schon früh Druck erleben und früh sagen: ‘Ja, ich muss das schaffen, ich muss den Übertritt schaffen, ich muss Leistung bringen.‘ Dann leben sie aber in einem System, in dem sie manchmal nicht ausreichend Unterstützung bekommen. Das sind dann zwei Effekte, die verstärkt auf psychische Belastungen wirken. Nicht alle Kinder sind psychisch krank, aber viele sind belastet.“

Rückmeldung, die langfristig Lernerfolg steigert

Aus Schulte-Körnes Sicht ist die vergleichende Abwertung von Kindern dabei besonders problematisch: „Wesentlich ist, wie man Kinder bewertet. Denn Übertritt ist ja eine Selektion aufgrund von Bewertungen. Das ist das, was den Kindern Stress macht, dass sie nämlich immer wieder die Rückmeldung bekommen: ‘Du hast das nicht gut gemacht, du bist da nicht gut, du bist im Vergleich zu dem anderen schlechter‘. Diese Differenzierung in gut und schlecht und das, was das mit der Persönlichkeit des Kindes macht, ist das Problem. Wir sollten zu einer anderen Bewertung kommen, zu einer positiven Bewertung und die Ressourcen des Kindes schätzen und sagen: ‘Mensch, das hast du schon gut gemacht, da bist du auf dem richtigen Weg‘. Also eher verstärken, anstatt immer negativ zu beurteilen.“

Erziehungswissenschaft und Motivationslehre haben diese Zusammenhänge indes längst erkannt und sind pädagogischer Konsens, wie Simone Fleischmann klarstellt: „Wir wissen, wie man anders Leistung, messen und Feedback geben kann. Es geht um eine Kultur des Feedbacks: Wo bist du gut, wo bist du nicht so gut? Was kannst du tun, um dich zu verbessern? Wo hast du Lust, dich zu verbessern? Es will doch niemand auf einem Fünfer sitzenbleiben.“

Die Gesellschaft muss mitziehen

Die BLLV-Präsidentin ist sich dabei der Beharrkräfte in Sachen Ziffernnoten bewusst und schlägt daher einen Kompromiss vor: „Vielleicht können wir einen Mix machen, das tun wir auch jetzt schon. Es gibt eine Note als Rückmeldung und es gibt eine verbale Beurteilung. Jetzt könnte man das noch in ein Gespräch tragen. Es gibt Lernentwicklungsgespräche: Wir unterhalten uns mit dem Kind über die Leistung. Wie war der Prozess? Hey, du hast eine Drei, was hast du alles gemacht für diese Drei? Und dann kann man mal aufdröseln, wie viel Invest in die Drei gegeben wurde. Also Leistung gemeinsam reflektieren.“

Es geht aus Sicht des BLLV darum, den ausschließlichen Fokus auf das Ergebnis des Lernprozesses zu erweitern auf den Prozess des Lernens. Das sollte sich entsprechend auch in der Leistungsrückmeldung abbilden, meint Simone Fleischmann: „Man kann Leistung auch anders messen in Gruppensettings, durch die Art und Weise, wie man ein Portfolio präsentiert. Wir wollen doch Menschen, die in der Gesellschaft ihre Stärken zeigen. Wie kann ich meine Stärken zeigen? Nicht, wenn ich schon Angst davor habe, dass ich mit einer Ziffernote beurteilt werde. Stattdessen kann ich referieren, etwas produzieren, ein Stück präsentieren, ein Portfolio auflegen. All das können wir in der Schule, diese Leistungsrückmeldungsformate gibt es. Aber wenn dann am Schluss doch nur die drei Noten zählen, dann karikiert es das Ganze. Daher müssen wir diese Art von Leistungsrückmeldung gesellschaftsfähig machen. Dafür braucht es wohl noch viele solche Runden wie heute.“

Länger gemeinsam

Auch Prof. Dr. Schulte-Körne spricht sich ganz klar für Leistungsrückmeldung aus – aber eben so, dass Leistung gefördert wird: „Man kann durchaus Leistung fordern und es ist auch wichtig, das zu tun. Aber eben individuell bewerten und immer auf das Kind schauen und sagen: ‘Mensch, du hast da, wo du jetzt bist, enormen Fortschritt gemacht.‘ Das motiviert. Und selbst die Kinder in unterschiedlichen Lernphasen profitieren davon, weil sie sich verstärkt fühlen. Man müsste also eigentlich weggehen von dieser Ziffernbewertung in eine Bewertung, die ressourcenorientiert ist. Das gibt es und das funktioniert auch.“

Moderatorin Özlem Sarikaya wundert sich, warum wissenschaftliche Erkenntnisse dennoch so wenig Eingang in die Schulpraxis finden dürfen. Schulte-Körne und Fleischmann sind sich einig, dass in Bayern die Verteilung auf drei Schularten bereits nach der vierten Klasse das Kernproblem ist. Da diese rechtssicher erfolgen muss, braucht sie vermeintlich klare Kriterien. Dem ließe sich aus dem Weg gehen, indem man Kinder einfach länger gemeinsam lernen lässt, was international bewährte Praxis ist und im Nutzen wissenschaftlich vielfach belegt. „Es kann eigentlich gar nicht sein, dass man so lange an etwas festhält, was nicht pädagogisch, psychologisch oder wissenschaftlich fundiert ist, sondern was halt vor Jahrzehnten mal so ausgehandelt wurde“, kritisiert Simone Fleischmann und stellt klar: „Wir haben doch alle Erkenntnisse, dass es für viele Kinder nicht gut ist, das so zu machen. Wir Lehrerinnen und Lehrer würden das ändern wollen, auch aus der Beobachtung der Kinder. Es wird aber politisch entschieden, leider nicht wissenschaftlich-pädagogisch, sondern politisch. Es braucht also eine gesamtgesellschaftliche Idee von Schule von morgen, die genau an dieser Stelle anders wird: länger gemeinsam!“

Schere zwischen Forschung und Schulpraxis: Politik gefordert!

Ein erster Schritt wäre zumindest eine Erweiterung der Kriterien für den Übertritt: „Wir brauchen an dieser Stellschraube der vierten Klasse eine deutliche Veränderung“, fordert BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann. „Zum Beispiel jetzt mal die Freigabe des Elternwillens. Da wird sofort gesagt: ‘Nee, das geht ja nicht, das geht gar nicht. Dann wollen alle Eltern ihre Kinder aufs Gymnasium schicken.‘ Aber man muss ja mal was wagen, man muss mal Schritte gehen – sonst kommen wir nie zu einer Veränderung.“

Prof. Dr. Schulte-Körne wünscht sich ebenfalls mehr Flexibilität im Bildungsbereich: „Wir haben Bildungsforschung und wissen eigentlich viel. Aber bis Forschungsergebnisse in die Praxis kommen – wenn sie überhaupt kommen – vergehen zehn oder zwanzig Jahre. Das können wir uns als moderne Gesellschaft nicht leisten.“

Lehrkräfte stärken

Für Lehrerinnen und Lehrer wäre es enorm wichtig, aktuelle bildungswissenschaftliche Erkenntnisse, die sich mit der pädagogischen Erfahrung in der Praxis decken, auch umsetzen zu dürfen. Denn sie stehen täglich für gute Bildung ein, betont Simone Fleischmann: „Wir sind mit unserer Persönlichkeit wichtig und wir wollen die sein, die vorangehen.“ Dafür braucht es aber einen breiten Rückhalt: „Die Gesellschaft tut gut daran, Lehrerinnen und Lehrer zu stärken und zu sagen: ‘Wir brauchen euch als ganzer Mensch.‘“

Denn eine zentrale Erkenntnis der Erziehungswissenschaft ist eben die, dass Bildung von Mensch zu Mensch gelingt. Die große aktuelle Krise in der Bildung besteht folglich darin, dass es schlicht zu wenige Menschen gibt, die sich dafür einsetzen wollen. Entsprechend eindeutig ist auch die Antwort von Simone Fleischmann auf die abschließende Frage von Moderatorin Özlem Sarikaya, was sie umsetzen würde, wenn sie einen Wunsch freihätte: “Die Attraktivität dieses Berufs hochhalten, damit viele junge Menschen sagen: Ich will Lehrerin oder Lehrer werden.“

» zum Video in der ARD-Mediathek „alpha-thema Gespräch: Lust auf Schule · Wie Lernen Freude macht“